DIE
WELT IN AUSZÜGEN, Teil IV ist meine letzte, meine neueste Arbeit. So
neu, wie ich gerade bemerke, dass ich noch gar keine Gelegenheit
hatte, einen gescheiten Untertitel zu ersinnen, der das Publikum
davor bewahren würde, bezüglich des Inhalts der Arbeit im Dunklen
zu tappen. Dies ist die erste und einzige unter meinen Arbeiten, in der keine Fotografie zur Verwendung kommt. Um es mir leicht zu machen, sage ich manchmal auch, DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL IV sei eine rein sprachliche Arbeit. Das klingt nicht ganz so blöd, dafür ist es aber auch weniger richtig. Denn es stimmt zwar, dass man bei dieser Arbeit, nüchtern betrachtet, außer Wörtern und Sätzen, die auf Papier gedruckt sind, nicht viel sehen kann. Dennoch vermittelt sich dem Betrachter sofort, dass es hier ganz elementar darum geht, mit Wörtern Bilder zu machen, dass diese mit einzelnen Wörtern oder Sätzen, mit alltäglichen Formulierungen und Ausdrücken bedruckten Blätter selbst Bilder sind und ihre Wirkung nicht wie Sprache entfalten, sondern genau so, wie Bilder es normalerweise tun: als Ganzes, suggestiv, psychologisch, emotional, assoziativ. Werden sie aufs äußerste reduziert und ihres alltäglichen Bezugsraums beraubt, so zünden diese größtenteils trivialen, bestenfalls archetypischen Fragmente der Alltagssprache in unseren Gehirnen Bilder, Erinnerungen und Gefühle, anstatt wie üblich vom Intellekt nach den Gesetzen der Sprache zergliedert und danach zu einer eindeutigen Aussage wieder zusammengesetzt zu werden. Dies ist die wichtigste und stärkste Qualität dieser Arbeit und diejenige ihrer Eigenarten, die mich zuerst gefesselt und mich darin bestärkt hat, diese eher unscheinbare Arbeit immer wieder aufzunehmen und voranzutreiben. Es fing alles ganz harmlos im Winter 1993 mit einer kleinen Kehlkopfentzündung an. Ja, damals hatte der Winter noch einen Arsch in der Hose! Erst recht in Berlin! Außerdem rauchte ich wie ein Schlot, was ein übriges tat. Meine Hausärztin empfahl mir, ein paar Tage wenig, am besten gar nicht zu sprechen. Ich war damals Student und hatte gerade eine neue Freundin. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wovon ich lebte. Meine wunderschöne, geräumige Zweizimmer-Altbauwohnung mit Wohnküche und einem funkelnagelneuen Kachelofen kostete 200 DM, und ich bekam insgesamt 240 DM Wohngeld dafür. Will sagen: ICH HATTE ZEIT! VIEL ZEIT! Kaum von der Hausärztin daheim, und in dem Bestreben, ihre Ermahnung sofort in die Tat umzusetzen, begann ich mit der Herstellung kleiner Zettel, die es mir ermöglichen sollten, in den kommenden Tagen mehr oder weniger alltägliche Gesprächssituationen zu bestehen, ohne ein Wort sagen zu müssen. Ich schrieb auf diese Zettel allerlei Floskeln, Begrüßungsformeln, alltägliche Ausrufe und Fragen und was mir an Standards alltäglicher verbaler Kommunikation sonst noch so einfiel. Die Zettel sollten meine mündlichen Beiträge ersetzen. Ich gedachte, sie meinen Gesprächspartnern im geeigneten Augenblick unter die Nase zu halten. Natürlich machte ich mir einen Spaß daraus. Zum Teil versuchte ich sogar, Gespräche und deren Wendungen vorherzusehen und auf Verdacht solche Zettel anzufertigen, die ich brauchen würde, um von einem Thema zu nächsten zu kommen oder Fragen zu beantworten, von denen ich ahnte, dass man sie mir stellen würde. Ich war begeistert! Ich benutzte eine Schreibmaschine mit einem schwarzen Filmband und schrieb die Wörter und Sätze mittig auf etwa postkartengroße, orangefarbene Zettel. Pro Zettel ein Satz, Wort oder Ausdruck. Das orangefarbene Papier war etwas ganz Besonderes. Es kam von einem alten, besten Freund meiner Kindheit und frühen Jugend, den ich damals schon seit über 15 Jahren nicht mehr gesehen hatte: Filippo. Sein Vater war Radiologe gewesen und das orangefarbene Papier stammte aus seiner radiologischen Praxis in Genua: Es war in den großen Schachteln mit den Röntgen-Filmen, immer eines zwischen zwei Film-Blättern, um zu verhindern dass sie einander verkratzten oder aneinander festklebten. Filippo hatte mir irgendwann eine größere Menge dieses Papiers vermacht, und ich hatte es all die Jahre treuherzig mit mir herum geschleppt, von einem Wohnort zum nächsten, in der Überzeugung, es werde sich eines Tages eine Gelegenheit auftun, dieses so besondere Papier einer nicht weniger besonderen Bestimmung zuzuführen. Und hier war sie endlich! Ich schnitt die Blätter auf Postkartenmaß herunter und schrieb auf jedes der Kärtchen einen meiner Sätze oder Ausdrücke. Bevor der Nachmittag um war, hatte ich ein Kartenspiel von vielleicht 30 oder 40 dieser Zettel in der Hand, mit dem ich mich nun gerüstet fühlte, das erste Gespräch in Angriff zu nehmen und mein Vorhaben auf Alltagstauglichkeit und Stringenz zu überprüfen. Um es kurz zu machen: Es klappte auf Anhieb. Mehr als das: Es war sogar lächerlich einfach. Selbst das Vorhersehen des mäandernden Verlaufs eines Dialogs ist nicht besonders schwierig. Da sehen Sie mal, auf was für einem erbärmlichen intellektuellen Niveau wir uns im Alltag bewegen! Schon als ich die ersten Zettel machte, wurde mir die suggestive Wirkung dieser kleinen, unscheinbaren Artefakte deutlich. Triviale Sätze wie “Gute Nacht.“, "Wie geht es Dir?" oder "Ich komme gleich wieder." entwickeln sofort ein komplexes Eigenleben voller eigentümlicher, unvorhergesehener Bezüge, kaum dass man sie ihres Kontexts entledigt in der Mitte einer neutralen gleichmütigen Fläche sich selbst und unseren neugierigen Blicken überlässt. Mehr noch, viel mehr noch als das: Gerade die unscheinbarsten dieser alltagssprachlichen Fragmente scheinen bei näherer Betrachtung die erschütternde Dramatik des menschlichen Daseins zu offenbaren, die stets knapp unter der Oberfläche unseres Alltags auf der Lauer liegt. Und das war's auch schon! Mehr Grund brauchte ich nicht, um diese kleinen, unscheinbaren Zettelchen auch jenseits ihres ersten albernen Verwendungszwecks ernst zu nehmen und ihren zauberhaften Qualitäten in einer künstlerischen Arbeit meine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich habe diese Arbeit im Lauf der Jahre immer wieder aufgenommen und liegen gelassen. Zwischen der Kehlkopfentzündung und der ersten Ausstellung der Arbeit sind 12 Jahre vergangen. Die letzte heiße Phase der Fertigstellung hat ein gutes Jahr in Anspruch genommen. Dazwischen habe ich die Arbeit immer wieder mal in die Hand genommen, habe ein wenig über ihr gebrütet, vielleicht ein paar Wochen lang, habe ihr ein paar neue Sätze oder Wörter hinzugefügt und sie wieder weggelegt. Irgendwann, als die Sammlung von Wörtern und Sätzen auszuufern begann, habe ich mir eine Datenbank auf meinem Computer angelegt. Und zwischendurch gab es einmal den Gedanken, die Arbeit mit der vorangegangenen Arbeit DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL III zu verbinden, die Bilder des dritten Teils mit den Wörtern und Sätzen des vierten Teils, aber das wurde wieder verworfen. Zum Schluss bin ich mit einer Datenbank von 700 Sätzen und Wörtern an die Fertigstellung der Arbeit gegangen. Die Fertigstellung bestand im Wesentlichen darin, eine denkbar kleine, repräsentative Auswahl vermeintlich archetypischer Sätze und Wörter der Alltagssprache zusammenzustellen. Darin gleicht diese Arbeit meinen vorangegangenen fotografischen Arbeiten. Und genau wie meine fotografischen Serien besteht auch diese Arbeit aus einem Anteil sehr persönlicher Elemente und einem Anteil Elemente, die ich als universell bezeichnen möchte. Als ich meine definitive Auswahl von 63 Wörtern und Sätzen beisammen hatte, habe ich begonnen, an einer Reihenfolge zu arbeiten. Die Arbeit an der Reihenfolge war Nerven zerfetzend, wichtig und sehr interessant. Es zeigte sich bald, dass eine bestimmte Abfolge von Wörtern und Sätzen ganz konkrete Geschichten nahezulegen scheint. Doch so zwingend diese Geschichten auch nahe gelegt zu sein scheinen, so wenig fühlt man sich in der Lage wiederzugeben, welcher ihr Inhalt sein könnte. Für mich ist die gesamte Arbeit eine einzige lange Geschichte, die sich zwischen dem ersten und dem letzten Element mal in weiten Bögen und mal in kürzeren Wellen in einem Stück dahinzieht. Es gibt Abschnitte, die mich geradezu sprachlos machen, wie Akkordfolgen, die absolut zwingend etwas nahezulegen scheinen, das man nicht in Worte fassen kann. Zum Schluss habe ich mich der Präsentation zugewendet. Es gibt drei Versionen dieser Arbeit: Eine gerahmte Version für Ausstellungen, eine Buch-Version und eine Version, bei der die Sprüche einzeln auf Geldscheine gedruckt werden. Eine weitere Version ist geplant aber noch nicht realisiert: die Tableau-Version, für die ich die gesamte Auswahl von 63 Sprüchen auf eine große, weisse Fläche drucken möchte. Die gerahmte Version wird dem suggestiven Potential der einzelnen Sprüche am stärksten gerecht. Die Buch-Version dagegen stellt die Reihenfolge, die Abfolge der Alltagssprachfragmente stärker in den Vordergrund und deren Vermögen, jene schwer greifbaren Geschichten beim Betrachter zu evozieren, von denen ich sprach. Die auf Geldscheine gedruckte Version ist wahrscheinlich die interessanteste, der bislang fertiggestellten Versionen, denn hier kommt ein gesellschaftlicher Aspekt ins Spiel, der in den anderen Fassungen nicht zum tragen kommt: Die alltagssprachlichen Fragmente fließen abseits des gängigen Milieus der Rezeption von Kunst in den menschlichen Alltag zurück, konfrontieren den Betrachter in dessen Alltag unerwartet mit sublimierten Fragmenten von Alltäglichkeit. Das ist der Gedanke. Die Sprüche werden mit einer Schreibmaschine auf Geldscheine getippt. Die Schreibmaschine ist mit einem Karbon-Band ausgestattet, welches jene durch absolut Nichts zu übetreffende Schärfe des Schriftbilds gewährleistet. Aus nahe liegenden Gründen beschrifte ich nur 5, 10, 20 und 50 € Noten. Für jede Geldnote habe ich einen Platz vorgegeben, an dem die Sprüche am besten zur Geltung kommen. Eine Schablone gewährleistet, dass die Sprüche bei jedem unterschiedlichen Geldschein an der gleichen Stelle stehen. Diese Vorgehensweise und Ästhetik gibt der Arbeit einen leicht industriellen (und ich möchte fast sagen: legalen) Anstrich. Ist der Geldschein einmal beschriftet, kann er sofort ausgegeben werden. Aber natürlich nicht sinnlos und unverantwortlich! So hat es für mich vor sechs Jahren begonnen: Ich habe einfach stur jeden Geldschein beschriftet, den ich am Automaten abgehoben habe, und danach in meinem Alltag unters Volk gebracht. Später habe ich durch eine glückliche Fügung in einem namhaften Kölner Café einen Kooperationspartner gefunden, der mir dabei geholfen hat, die beschrifteten Geldnoten generalstabsmäßig in größerem Stile in Umlauf zu bringen. Eine dankbare Zusammenarbeit mit einer bezaubernden Wirtin. Und alles im Dienste der Kunst! Als ich damit begonnen habe, die beschrifteten Geldnote in Umlauf zu bringen, hatte ich den Gedanken, dass ich damit aufhören würde, sobald ich zum ersten Mal einen meiner Scheine wieder in die Hände bekommen würde. Aber das ist nie geschehen. Nach etwa 2000 Scheinen habe ich aufgehört - es war mühsam, ich wurde Vater ... Aber die Schreibmaschine steht neben mir, die Schablonen liegen im Schrank und Karbon-Bänder habe ich auf Vorrat gekauft: Es kann jederzeit wieder losgehen! Ein letztes Wort noch zur Typografie: Sie spielt in dieser Arbeit eine gewisse Rolle. Es ist natürlich keine Typografische Arbeit, aber die Typografie der Arbeit hat einen nicht unbedeutenden Einfluss auf ihre Wahrnehmung, ihre Zugänglichkeit, auf die freie Entfaltung der einzelnen Alltagssprachfragmente im Bewusstsein und Unterbewussten des Betrachters. Für die gerahmte Version und die Buch-Version habe ich mich nach vielen Versuchen für die Schrifttype Franklin Gothic ITC Book von Moris Fuller Benton entschieden, für die auf Geldscheine gedruckte Version verwende ich die Letter Gothic von Roger Roberson. So schwierig und aufreibend es auch war, die richtigen zwei Schrifttypen für diese Arbeit zu finden, so leicht ist die Funktion beschrieben, die sie im Rahmen der Arbeit erfüllen müssen: Sie dürfen bei der Wahrnehmung der Bilder, der einzelnen Alltagssprachfragmente, nicht im Weg sein! Das ist alles! Und das Bedeutet: Die Schrifttype muss makellos aber diskret und unauffällig sein. Schön genug, um keine Mängel aufzuweisen, auf die man aufmerksam werden könnte, aber auch nicht so schön, so elegant oder ungewöhnlich, um Vorzüge aufzuweisen, auf die man aufmerksam werden könnte. Auf gut Deutsch: Ich suchte eine Schrift, die man nicht sieht! Denn schließlich wollte ich ja Bilder machen! |
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