KARL V. WESTERHOLT    Fotografie, Texte - künstlerische Arbeit                                                                     Einleitung  <  Die Welt in Auszügen, Teil I  <  Home 


graue Linie


"Die Bilder wirken auf mich, als hätte sie ein Marsmensch gemacht, der zum ersten Mal die Welt sieht."
Jo v. Westerholt, mein Bruder


DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL I besteht aus 21 Bildern belangloser Gegen­stände und Orte – gewöhnliche Schauplätze und Requisiten moderner Siedlungskultur, fotografiert mit den traditionellen technischen Mitteln und dem gleichgültigen Blick der Pressefotografie.
Es gibt die Arbeit als Künstlerbuch und in einer großen Fassung. Das Künstlerbuch umfaßt außer den Bildern noch einen längeren und drei kurze Texte.

Ich war kurz nach dem Fall der Berliner Mauer von West- nach Ostberlin gezogen, nach Marzahn, eine riesige Trabantensiedlung am östlichen Stadt­rand Ostberlins: Plattenbauten soweit das Auge reicht, weiträumig verstreut über ein Ödland von unüberschaubaren Ausmaßen. Die Gegend war mir durch und durch fremd, fremder als es mir ein fremdes Land je gewesen ist. Vielleicht, weil das westdeutsche Grundgesetz von mir verlangte, die DDR als meine Heimat zu betrachten, obwohl sie es einfach nicht war, wegen dieses Widerspruchs, den die gemeinsame Sprache nur noch deutlicher machte. Ich gab mir große Mühe, mich wie ein Einheimischer zu benehmen und zu fühlen, schon um meinetwegen, jedoch vergebens – an jeder Ecke meines Alltags lauerte irgendeine kleine Falle, die mich als Wessi enttarnte. Und das war damals durchaus heikel. Zu allem Übel beschränkten sich meine sozialen Kontakte aus­schließlich auf Westberlin. Doch Westberlin schien Lichtjahre von Marzahn entfernt zu sein, Post und Telekommunikation lagen am Boden, kurzum – ich war isoliert in einer vollkommen fremden Umgebung. Es blieb mir nichts anderes übrig, als durch fleißige Arbeit meinen Untergang abzuwehren. Ich begann zu schreiben und meine neue Umgebung zu fotogra­fieren. Als ich die Arbeit nach einem Jahr abschloß, hatte ich mich mit der Gegend versöhnt. Ich war immer noch ein Fremder, aber ich fühlte mich zu Hause, geborgen. Ich hatte den Eindruck, mir die Gegend durch meine Arbeit angeeignet zu haben, als ob meine Bilder, wie ein geheimer Schrein, die Seele dieses Ortes enthielten. Klingt wie Voodoo-Zauber, ist jedoch des Künstlers täglich Brot, wenn man Max Frisch Glauben schenken darf:
"Schreiben ist nicht Kommunikation mit sich selbst. Schreiben ist auch nicht Kommunikation mit anderen. Schreiben ist Kommunikation mit dem Unfaßbaren, also der Wirklichkeit", heißt es irgendwo in einem seiner Romane – leider weiß ich nicht mehr, in welchem. Und diese Aussage gilt bestimmt nicht nur für das Herstellen von Bildern, sondern für Kunst im Allgemeinen, vielleicht für jede kulturelle und wissenschaftliche Tätigkeit, für jede Form des Forschens, für alles, was der Mensch tut, um sich die Beschaffenheit seiner Umwelt zu vergegenwärtigen. Ich habe jedenfalls meine berufliche Motivation nie besser beschrieben gesehen, als in diesen drei so unscheinbaren Sätzen. Das ist mir im Zuge meiner Arbeit an DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL I deutlich geworden.
Wenn ich heute zufällig nach Marzahn komme – und ich komme außer­ordentlich gern nach Marzahn – dann fühle ich mich wie ein alter Kriegsveteran, der in einer vollklimatisierten Limousine an den Schlacht­feldern seiner Vergangenheit vorüberfährt, und einfach nur aus dem Fenster sieht und nichts sagt. Ich habe mit meinen Bildern eine Beziehung zu dieser Gegend herzustellen versucht, mein Verhältnis zu ihr ausgelotet und offen­bart, und das hat sie mir zu etwas Freundlichem gemacht, zu einem Zuhause auch.

Diese Arbeit ist der erste Teil meiner WELT IN AUSZÜGEN. Ich plante damals kein Lebenswerk in Fortsetzungen. Der Titel DIE WELT IN AUSZÜGEN geisterte mir im Kopf herum. Er war mir eines Tages eingefallen und schien gut zu den Bildern zu passen, die Stimmung der gesamten Arbeit treffend zu beschreiben. Erst als ich Bilder und Texte bereits zusammenhatte und daran arbeitete, sie in eine geeignete Form zu bringen, begann ich den Titel im Geiste immer häufiger mit dem Zusatz TEIL I zu versehen. Ich war mir zwar sicher, daß ich dem Material nichts mehr hinzuzufügen hatte, aber irgend etwas an dieser Arbeit schien mir offen zu sein, nach einer Fortsetzung zu verlangen. Erst später, als ich mich bereits mit der WELT IN AUSZÜGEN, TEIL II zu beschäftigen begonnen hatte, bemerkte ich, daß der Titel weniger ein Name für meine Arbeit gewesen war, denn vielmehr die Bezeichnung für einen Vorgang, dem ich mich unbemerkt verschrieben hatte – die Welt in verschiedene Kategorien von Erscheinungen aufzuteilen und zu jeder dieser Kategorien eine Art fiktive Anthologie zu verfassen, Serien von Bildern, die tun, als seien sie Kataloge zu einer bestimmten Gruppe von Elementen unserer Welt, unserer Wirklichkeit.


DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL I

Einleitung
Bilder
Ausstellungsfotos
Technische Daten