KARL V. WESTERHOLT     Fotografie, Texte - künstlerische Arbeit Einleitung  <  Die Welt in Auszügen, Teil I - Epilog  <  Home


graue Linie


"Er war sich bewußt, daß er - in all der Wirrnis und würdelosen Hanswursterei dieses Lebens, das wir durcheilen -, daß er die Satzungen seines Vertrages erfüllen mußte; und er erfüllte sie. Die Satzungen, von denen im innersten Herzen jeder Mensch weiß. Wie ich von meinen weiß. Wie alle wissen. Denn das ist die inneliegende Wahrheit - daß wir alle wissen, Gott, daß wir wissen, daß wir wissen, wir wissen, wir wissen."
aus: Saul Bellow: Mr. Sammlers Planet


Ich fotografierte zwischen Herbst 1990 und Frühjahr 1991 in den Stadtrandgebieten Ostberlins. Ich war kurz zuvor, unmittelbar nach der Wende, von West-Berlin nach Marzahn gezogen, jenem Stadtgebiet im Osten Ost-Berlins, der beinahe schon als Archetypus einer Plattenbau-Vorstadt sozialistischen Zuschnitts gilt: ungeheuer weitläufig, kalt, lieblos und unwirtlich und augenscheinlich in seiner gesamten Konzeption auf eine groteske Vorstellung menschlicher Bedürfnisse gegründet.
Ich fotografierte, um mir die Gegend anzueignen, um meine Fremdheit und Befremdung zu überwinden. Ich stieg jeden morgen in irgendeine beliebige S-Bahn, fuhr bis zur Endstation, lief dort planlos herum und fotografierte, was ich sah. Wenn es dunkel wurde, fuhr ich wieder nach Hause. Daraus wurde DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL I. Triste Sujets einer ohnehin schon vollkommen trostlosen Gegend, fotografiert in jenem trüben Licht der geschlossenen Wolkendecke, auf welches das Künstlerpaar Bernd und Hilla Becher damals die gesamte westdeutsche Fotoszene eingeschworen hatte: Es war ein wahres Fest des Trübsinns! Ein Bisschen romantisch, nicht wirklich subtil, aber auch nicht vollkommen doof. Nein, es war toll, und es war vor allem ehrlich gemeint.

Und dann kam der Frühling. Die Natur erwachte - sogar in Marzahn! Die Bäume wurden grün, die Wiesen saftiger, und am Ende fing es dann auch noch an zu blühen. Selbst die Randbezirke Ost-Berlins erschienen plötzlich in einem so freundlichen Licht, dass es mir nicht mehr möglich war, die Bildästhetik, die ich bis dahin verfolgt hatte – jenen schamlosen Lobgesang auf den Trübsinn, den ich angestimmt hatte – weiterhin aufrecht zu erhalten. Also schloss ich die Arbeit ab, verzog mich ins Labor und machte schließlich ein Buch aus den Bildern.

Als ich mit der Arbeit fertig war, war es aber erst Sommer. Jetzt musste ich natürlich etwas Neues beginnen, mir fiel aber nichts wirklich Neues ein, das dauert eben manchmal etwas länger! Denken Sie nur an Marcel Duchamp! Eigentlich aus reiner Ratlosigkeit, vielleicht auch aus Langeweile oder auch einfach nur aus einem unbestimmten Unbehagen heraus, das meine Untätigkeit mir bereitete, machte ich einfach dort weiter, wo ich im Frühling aufgehört hatte: Ich steig wieder in eine S-Bahn, fuhr zur Endstation, lief dort herum und fotografierte. Jetzt eben bei Sonnenschein, und ich entfernte mich etwas weiter von den Endstationen in Richtung des grünen Umlandes der Stadt. Ich weiß es nicht mehr genau, weil es schon 20 Jahre her ist, aber ich meine mich zu erinnern, dass ich damals gar nicht so richtig Ernst nahm, was ich tat. Es kam mir vor, als füllte ich lediglich die Lücke bis zur nächsten tragfähigen Idee zu einer künstlerischen Arbeit. Alles war so anders! Die Orte wirkten bei Sonnenschein weniger bedeutungsvoll, oberflächlicher, ja, genau genommen wirkten sie einfach billig.

Und so verschwand die Arbeit auch tatsächlich in der Schublade – es wurde Herbst, die Sonne verschwand wieder hinter der geschlossenen Wolkendecke, und außerdem nahm die Idee zu einer neuen Arbeit Gestalt an, die mir tragfähiger erschien: DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL II. Trotzdem habe ich die Arbeit nie verworfen. Immer wieder mal fiel sie mir zufällig in die Hände, und dann brütete ich ein paar Stunden darüber, sah mir die Bilder an und versuchte, die Auswahl weiter zu konzentrieren, aufs Nötigste zu schrumpfen. Und je älter sie wurde, desto besser gefiel sie mir. Heute mag ich den Epilog lieber als den Hauptteil.

Warum? Es ist ganz einfach. Der Epilog sagt diskreter und pointierter das gleiche, was der Hauptteil unbekümmert herausposaunt. Vielleicht ist es einfach eine dialektische Formulierung des gleichen Inhalts. Die Tragik des menschlichen Daseins, der Widerspruch zwischen Glück und Erkenntnis gepaart mit dem Verlangen des Menschen, beider gleichermaßen habhaft zu werden, diese fundamentale und universelle Tragik, die in der Entstehungsgeschichte des Alten Testaments so einfach und erschöpfend beschrieben wird und genau genommen im Ausdruck einer jeden menschlichen Tätigkeit enthalten ist – diese Tragik wird bei direkter Sonneneinstrahlung und Temperaturen ab 24°C aufwärts einfach deutlicher! Nicht auf den ersten Blick aber umso mehr auf den zweiten, weil wir sie hier nicht erwarten, sie vor dem Hintergrund der fröhlichen Leichtigkeit eines Sommertages noch schärfer kontouriert in Erscheinung tritt. Tod, Verderben, Verlust und Scheitern sind unter einer blühenden Magnolie eben kein Bisschen leichter zu ertragen als im kalten Nieselregen eines trüben Novembertages. Es sieht nur so aus! Denken Sie nur an Zahnschmerzen, und Sie verstehen, wovon ich spreche!

Nur eines verstehe ich nicht: Die Vergeblichkeit des menschlichen Strebens erscheint bei schlechtem Wetter einfach nur deprimierend, bei schönem Wetter hingegen erscheint sie rührend. Warum ist das so? Denken Sie mal darüber nach!


DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL I - EPILOG
"Billige Landschaften"
Einleitung
Bilder
Ausstellungsfotos
Technische Daten