KARL V. WESTERHOLT    Fotografie, Texte - künstlerische Arbeit Einleitung   <   Chemogramme   <   Home


graue Linie


Wahrscheinlich ist es sinnvoll, als Erstes kurz zu erläutern, was ein Chemogramm ist, und wie es entsteht, denn dieses ganz besonders unmittelbare und durch und durch analoge Verfahren ist schon seit längerem aus dem Kanon der verbreiteten und bekannten Kulturtechniken verschwunden.

Eigentlich ist es ganz einfach: Sie haben Fotopapier, sie brauchen Licht, normales Raumlicht oder Tageslicht, und die bekannte Fotochemie – Entwickler, Stoppbad, Fixierer. Keine Kamera, keinen Film, kein Vergrößerungsgerät, keine Dunkelkammer.

Das Fotopapier ist in der Regel belichtet. Das bedeutet, wahrscheinlich habe ich das gemacht, was man normalerweise um keinen Preis tun sollte: Ich habe bei normalem Raum- oder Tageslicht die Verpackung des Fotopapiers geöffnet und eines oder gleich mehrere Blätter daraus entnommen und vor mir auf den Tisch gelegt. Damit ist es belichtet. Und auch, wenn ich das dem Blatt nicht ansehen kann, denn es liegt unverändert weiß vor mir, ist es nun latent schwarz: Wenn ich es in den Entwickler geben würde, würde die Schichtseite vollständig und gleichmäßig schwarz werden. So. Und auf dem Weg von diesem belichteten weißen aber latent schwarzen Blatt Fotopaier zu dem Bild, das ich zum Schluß aus dem Fixierer ziehe, öffnet sich der weite Gestaltungsspielraum des Chemogramms. Wir können, anstatt das Bild einfach zu entwickeln, es nur zum Teil entwickeln, das Blatt nur zum Teil in den Entwickler tauchen, Entwickler darauf träufeln, mit Entwickler etwas darauf schreiben, die Entwicklung unterbrechen, bevor das Papier vollständig schwarz ist usw. Wir könnten auch auf das latente schwarze Bild Fixierer träufeln. Wenn wir es danach in den Entwickler geben, bleiben die bereits fixierten Stellen weiß, der Rest wird schwarz. Aber das sind freilich nur die aller naheliegendsten und so gesehen primitivsten Möglichkeiten, in das chemische Verfahren einzugreifen. Es gibt unzählige und unvergleichlich subtlilere und spannendere mehr! Es gibt auch farbliche Reaktionen vor allem an den Stellen, wo Entwickler und Fixierer gleichzeitig auf die Emulsion, auf die lichtempfindliche Schicht, einwirken.

Während meiner Arbeit an den Chemogrammen hat sich für mich im Lauf der Zeit eine Art Werkzeugkoffer herauskristallisiert, den ich stets griffbereit haben musste: diverse Schreibfedern, diverse Pipetten, einen Zirkel, Tempos oder Küchenrolle. Vor allem jedoch hat es mir gefallen, sparsam mit der Pipette Tropfen von Chemie auf das Papier zu bringen und sie anschließend – so absichtsvoll wie möglich und so zufällig wie nötig – durch vorsichtiges Schwenken des Fotopapiers nach meiner Vorstellung über das Papier zu dirigieren.
Wie auch immer man es anstellt – man muß dem Organischen Raum geben, sich mit dem Organischen arrangieren, denn oft ist das Gestaltungsergebnis ein Abdruck des unvorhersehbaren Verhaltens der Flüssigkeiten in Interaktion mit den anderen Materialien, die man ins Spiel brachte. Der Künstler ist hier eher als freundlicher und gegebenenfalls verständiger Lenker des Zufalls beteiligt.

Soweit eine grobe Beschreibung des fotografischen Chemogramms. Vielleicht vertieft es das Verständnis der Bilder, die hier zu sehen sind. Wenngleich wir selbstverständlich des Umstandes gewahr sind, dass für die Rezeption eines Kunstwerks, die Herstellungsumstände immer nur die zweite Geige spielen können – wenn überhaupt!

Als ich zwischen 2007 und 2013 an der Akademie für Kommunikationsdesign in Köln die Studierenden in Fotografie unterrichtete, wurde ich beauftragt, ein kleines Fotolabor aufzubauen. (Oder habe ich mich mit dem Plan etwa der Leitung aufgedrängt? Auch das wäre möglich!) Alsbald war unser Fotolabor einsatzbereit und ich war selbstverständlich sehr darauf bedacht, es in meinen Unterricht zu integrieren. Und verfiel auf das Chemogramm! Nichts macht die grundlegende Mechanik der analogen Fotografie, die Interaktion zwischen Licht, lichtempfindlicher Emulsion und Fotochemie, so anschaulich und greifbar wie das Chemogramm. Also wurden fortan die Studierenden dazu verdonnert, sich in dieser Kulturtechnik zu üben und selbstverständlich mit ihren gelungenen Ergebnissen auch Credit Points einzuheimsen! Es sollte ja keine Spaßveranstaltung für Ewiggestrige sein!
Die Arbeiten, die die Studierenden mir unterbreiteten, waren indes wirklich überwältigend. Ich konnte sehen, dass die meisten von ihnen es sofort verstanden hatten, sich diesen einzigartigen Prozess zunutze zu machen, den ich oben beschrieben habe – das eigenwillige, lenkbare aber nicht vollständig kontrollierbare organische Verhalten der eingesetzten Materialien – um damit einzigartige Gestaltungsergebnisse zu erzielen.

Ich war sofort neidisch! Wieso durften die so frei und unbelastet gestalten und ich nicht? Mit diesem Medium, das uns fast der endgültigen Verantwortung für unser Gestaltungsergebnis zu entheben scheint – wenn es toll wird, dann waren selbstverständlich WIR das, unsere Geschicklichkeit im Umgang mit den physikalischen Gegebenheiten, aber wenn es mißlingt, nun, dann ist etwas Unerklärliches passiert, das sich unserer Einflussnahme entzog, und wir werfen das Blatt weg!

Semester für Semester war ich auf's Neue begeistert – und neidisch! Bis ich schließlich im Geburtsjahr meines jüngeren Sohnes eine Lücke fand und mich ein paar Monate lang ganz der Herstellung von Chemogrammen widmen konnte. Für mich, der ich es bis dahin gewohnt war, mich – zwangsläufug natürlich und nicht weil das Spaß macht – mit Schärfe zu beschäftigen, mit der Dichte von Negativen, Belichtungszeiten, Kipprythmus, Entwicklungsschlieren, Staubkörnern auf Negativen, Schweiß in der Kameraelektronik und all diesen unzähligen Dingen, die die Fotografie zu einem so hassenswerten Medium machen, für mich war die Beschäftigung mit den Chemogrammen, die Sie hier sehen können, eine ungeheuere Wohltat, der Ponyhof der Fotografie, wenn Sie so wollen.


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