KARL V. WESTERHOLT    Fotografie, Texte - künstlerische Arbeit                                                                                                                     Laudatio  <  Home 


graue Linie




Grand Canyon

LAUDATIO

Dr. Reinhold Happel

Verleihung des Förderpreises des Rheinischen Kulturpreises

der Sparkassenstiftung zur Förderung Rheinischen Kulturguts

Bonner Kunstmuseum, 25.06.95


Über das Werk eines bildenden Künstlers zu sprechen, der - weil er jung und am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn steht, bisher nur wenigen Eingeweihten ein Begriff ist, erscheint mir dann ein etwas eigenartiges Unternehmen zu sein, wenn die vom Redner aufgestellten Behauptungen für das Publikum sich nicht durch den Augenschein, also durch die Betrachtung der Werke selbst, überprüfen lassen.

Mit einer solchen Situation haben wir es ja hier bei dieser Festveranstaltung zu tun. Und es wäre denkbar, daß der Redner Ihnen das "Bild" einer Künstlerpersönlichkeit entwirft, die allein seiner Phantasie entsprungen ist und einzig in seinen Worten existiert.

Insofern bin ich froh, daß Karl v. Westerholt, der den diesjährigen Förderpreis des Rheinischen Kulturpreises der Sparkassenstiftung erhalten hat, in seiner künstlerischen Arbeit nicht nur mit der Kamera, sondern auch mit den Worten umgeht, und er mir damit die Möglichkeit gibt, gewissermaßen auf einem auch für Sie wenigstens ansatzweise nachvollziehbaren Boden zu wandeln. Erlauben Sie mir daher, als Einstieg ein kurzes Textstück von Karl v. Westerholt vorzulesen, das mir in vieler Hinsicht charakteristisch erscheint für seine künstlerische Haltung.


"Manchmal, wenn er sich im Spiegel ansah, war er unangenehm überrascht von der Größe seines Kopfes. Er wußte nicht, ob sein Kopf wirklich in irgendeiner Weise zu groß war, aber manchmal schien es ihm so, und daß er deshalb vielleicht häßlich sein könnte. Und das war ihm unangenehm. Natürlich hätte er auch nicht genau zu sagen gewußt, was es ihm nützen würde, nicht häßlich zu sein, und das beruhigte ihn wieder weitgehend, so daß es ihm letztendlich ziemlich gleichgültig war. Es war eher der Moment, wenn er es sah und diesen Eindruck hatte, daß sein Kopf zu groß sei, der ihn erschreckte. Sobald er keinen Spiegel mehr vor sich hatte, vergaß er es wieder, und das war immerhin die längste Zeit des Tages."
(aus: Die Welt in Auszügen, Teil II)

Dieser Text ist Bestandteil des neuesten Werkes von Karl von Westerholt. Es trägt den Titel "Die Welt in Auszügen, Teil II" und existiert in verschiedenen Varianten: als Serie von jeweils 17 kleinformatigen bzw. großformatigen S/W-Fotografien, die einfache, banale Alltagsgegenstände vor weißem Hintergrund zeigen. Und es gibt die Serie in gebundener Buchform im Folioformat. Dort sind zwischen die einzelnen Abbildungen verschiedene kürzere oder längere Texte – wie der eben zitierte – geschaltet.


Was Westerholt hier mit einer beiläufigen Leichtigkeit und unterschwelligen Ironie schildert, ist ein im Grunde genommen alltägliches Ereignis. Manchem unter uns wird es so oder so ähnlich auch schon ergangen sein beim noch nicht ganz wachen Blick in den Spiegel während des morgendlichen Waschens. So banal das Ereignis zunächst erscheint, so komplex stellt es sich schließlich bei Westerholt dar. Denn es geht hier um Vieles: Um Wahrnehmung und das Verhältnis von Wahrnehmung zur Wirklichkeit, um die Wahrnehmung des eigenen Körpers als ein vom eigenen Bewußtsein scheinbar getrenntes Objekt der Anschauung, um Proportionen, um das Häßliche und das Schöne, um die Empfindungen, die mit diesen ästhetischen Kategorien verbunden sind, und um das menschliche Denken, das sich in Bruchteilen von Sekunden abspielen kann und nicht gerade von logischer Rationalität durchdrungen ist.
 
So wird ein kleines, nebensächliches Ereignis, das eigentlich kaum der Rede wert ist, zu einem erstaunlich tiefgründigen Fokus des menschlichen Seins, bei dem die Profanität der alltäglichen, dumpfen Vergeßlichkeit auf absurde Weise mit zentralen Fragen der Kunst verknüpft erscheint. Genau das ist es wohl, was Westerholt so fasziniert an allen Phänomenen des Alltags, sie sind schillernd und vielschichtig. Nicht die großen Ereignisse der Weltpolitik, nicht die spektakulären Erscheinungen der Wirklichkeit, sondern das Alltagsleben, die Alltagswirklichkeit, erscheint ihm als das eigentliche Abenteuer, in das der Mensch tagtäglich verstrickt ist. Es bedarf nur, wenn man Westerholt Glauben schenken darf, einer geringfügigen Änderung der Blickrichtung, um hinter der Folie des Alltags die abgründigen "Dramen" menschlichen Strebens und Handelns zu entdecken.


Wie in den Texten ist das Drama des Alltags auch in Westerholts Fotoarbeiten wiederzufinden: seinen Motiven fehlt alles Spektakuläre, und doch geht von ihnen eine geheimnisvolle, manchmal fast poetische Stimmung und Wirkung aus, wenn Westerholt etwa in sehr ungewöhnlichen Ausschnitten vollkommen Öde, keiner ernsthaften Betrachtung wert erscheinende, unwirtliche, vernachlässigte Orte in der Stadt oder auf dem Land fotografiert, die ausgerechnet erst im trüben Novemberlicht ihr wahres Gesicht zu zeigen scheinen. Oder es ist in dem bereits eingangs erwähnten Werk "Die Welt in Auszügen, Teil II"  die ehrfurchtheischende Galerie überdimensional vergrößerter Utensilien des Alltags, bei der sich Schminkköfferchen, Handspiegel, Flaschenbürste, Kaffeefilter, Hammer, Küchenmesser und vergleichbare Gegenstände die Ehre geben. Es ist eine Bildfolge, die dank des Widerspruches zwischen der hochnotablen Darstellungsweise und der Niveaulosigkeit der Bildinhalte in einer eigenartig dialektischen Spannung voller Fragwürdigkeit verharrt, in der die Blasphemie der readymades von Marcel Duchamp ebenso latent durchschimmert, wie der ironische Kult des Alltags in der Popart.
 
Bei alledem sind Westerholts Arbeiten nie vordergründig oder laut. Er liebt eher die leiseren, differenzierten Töne, er ist ein stiller, genauer Beobachter, ein Suchender, ein Fragender, dem das Selbstverständliche nicht selbstverständlich, sondern wundersam erscheinen kann, ein Grenzgänger, der nicht nur nach dem vor und dem dahinter, sondern auch nach dem dazwischen fragt, nach dem was sich zwischen zwei Dingen oder zwischen zwei Zuständen befindet und ob man sich dort eventuell niederlassen könnte. Der Künstler gewissermaßen als Grenzgänger, dieses Bild mag Karl von Westerholt ein vertrautes sein, hat er doch als Sohn eines langjährigen Mitarbeiters des Goethe-Instituts viele Jahre seines Lebens im Ausland verbracht, etwa in Italien, in Südamerika und in Osteuropa.


Westerholt als Grenzgänger also auf einem ganz eigenen Weg zwischen den Medien, zwischen der Fotografie und der Literatur, - als Grenzgänger, der sich in seiner künstlerischen Arbeit die Offenheit bewahrt, der Intuition weiten Raum zu geben, offen zu bleiben für das Unvorhergesehene, das Überraschende, das Abenteuerliche des künstlerischen Werkprozesses, und sich nicht an selbstgesteckte, aber bei näherer, kritischer Betrachtung unhaltbare künstlerische Maximen zu fesseln - als Grenzgänger schließlich, der von Beginn an - bei allen Selbstzweifeln - immer seinen eigenen Ideen gefolgt ist und nicht darauf geachtet hat, sich im Mainstream künstlerischer Moden zu bewegen, ja der sogar eine gewisse Distanz auch zu seiner geschätzten Ausbildungsstätte, der Folkwangschule in Essen, gewahrt hat, als hätte er sich das Credo des großen französischen Realisten Gustave Courbet zu eigen gemacht: "Jeder Künstler muß sein eigener Lehrer sein".


Eine solche Haltung, die mit einer hohen Sensibilität für die Qualität der künstlerischen Formulierung einhergeht, ist bei jungen Künstlern äußerst selten anzutreffen. Insofern ist Karl von Westerholt ein würdiger Träger des Förderpreises der Sparkassenstiftung. Die Kraft und Sicherheit seiner künstlerischen Haltung beruht auf seiner offensichtlich tiefen Faszination für die Wirklichkeit, von der Max Beckmann einmal gesagt hat, daß sie das eigentliche "Geheimnis unseres Daseins bildet ... . Meiner Meinung nach", so Beckmann weiter, "sind alle wesentlichen Dinge in der Kunst ... immer aus dem tiefsten Empfinden für das Mysterium des Daseins entsprungen." Und das, so denke ich, könnte auch für Karl von Westerholt zutreffen und zu berechtigten Hoffnungen für seinen weiteren künstlerischen Weg Anlaß geben.